italien - südtirol

Aus: Der andere Ast

Vorwort:
Südtirol ist ein wunderbares Land. Aber selbst die eingefleischtesten Südtiroler würden zugeben: (Es ist) ein Land, dessen Sprachgruppen gedeihlich nebeneinander leben, aber oftmals zu wenig miteinander. Ein Land, in dem die Zustimmung zur Europäischen Union deutlich höher ist als in anderen Teilen Europas, in dem aber dennoch politische Argumente oft in der nationalistischen Mottenkiste gesucht werden, statt in dem nach siebzig Jahren reichen Fundus der europäischen Erfahrungen und in den ebenso reichhaltigen europäischen Visionen.

(Es spricht Silvius Magnago: im Roman ein Anwalt, in der Realität 1960-1989 Südtiroler Landeshauptmann und eine charismatische Integrationsfigur )
          "Sehen Sie da draußen durch's Fenster den Rosengarten, den schönsten Teil der Alpen?" fragte er mich. "Wie sind die Alpen entstanden? Dadurch, dass Europas Norden und Süden sich näherkommen. Tektonische Bewegungen, die unsere Heimat geschaffen haben. Ich bin ein Sohn der Alpen. Mein Vater kommt von ihrem südlichen Rand, meine Mutter eher vom nördlichen Rand, und ich lebe mittendrin. Hier habe ich mich für die Politik engagiert, hier wurde ich aus dem Gemeinderat gefeuert und ein paar Wochen inhaftiert, hier versuche ich mein Glück nun als Anwalt. Die tektonischen Platten bewegen sich und es scheint mir, dass ihre Bewegung schneller wird. Aber wie schnell? Europa muss schneller zusammenwachsen. Das wäre gut für Südtirol und gut für jemanden wie mich, der sich weder als Italiener noch als Österreicher und schon gar nicht als Deutscher versteht, sondern als Europäer."

Aus: Geschichten zwischen Italien und Deutschland (eine Publikation der Deutschen Botschaft Rom, 2022)

Mir geht es wie Goethe in Italien. Je weiter südlich ich komme, desto größer wird die Begeisterung. Warum? Von den sichtbaren und unsichtbaren Schätzen Italiens (den humanen und den physischen) fesseln mich vor allem diejenigen, die sich erst beim zweiten Blick offenbaren - und ihnen bin ich vor allem im Süden begegnet.
          Sichtbare Schätze: Als Diplomat in Rom und Neapel sah ich viele architektonische Glanzstücke. Sie verschlagen Dir die Sprache, wenn sie majestätisch vor Dir stehen: das Colosseum in Rom, die Kathedralen in Mailand, Florenz, San Marco... Ich aß gut, besuchte die Oper in Verona, schwärmte für Alfa Romeo – Stücke aus Italiens genussbereitem, exportfähigem Repertoire, wie der Latte macchiato oder die Küste der Cinque Terre, die die Betonwand einer Stuttgarter Pizzeria ziert, um in den feuchtkalten Monaten die Sehnsucht zu lindern.
          Und dann: die weniger sichtbaren Schätze, die entdeckt werden wollen. Die Katakomben des San Gennaro in Neapel. Die von einem Laien zusammengezimmerte Riesen-Orgel in der Chiesa di San Pietro in Trapani. Das in keinem Reiseführer erwähnte, ebenso stolze wie melancholische kalabresische Gebirgsstädtchen Santa Severina. Der Deutschlehrer in Crotone, der Jahr für Jahr seine Schüler für etwas Fremdes begeistert und ihnen Lebensmut einflößt. Der Pizzabäcker aus Neapel, der sich der Mafia widersetzt. Die sizilianische Volksmusikgruppe, die mit großem Talent eine sizilianisch-deutsche Version des Mythos von Colapesce (bzw. des Tauchers von Schiller) aufführte, jedoch weniger Talent bei der Vermarktung ihres Könnens zeigte. Die Bürger des kampanischen Ortes Caiazzo, die eine Städtepartnerschaft eingingen mit der Heimatstadt des deutschen Offiziers, der in ihrem Ort 1943 ein Massaker zu verantworten hatte. Mein liebenswürdiger Ex-Fahrer in Neapel, ein einfacher Mann von großer Weisheit.
          Das Geheimnis all dieser Schätze fasst mein italienisches Lieblingslied zusammen: Il Coyote von Lucio Dalla. In ihm zeigt der Coyote, dass man mit Willenskraft und Fantasie aus Wenig etwas Großes schaffen kann. 'Perché vince il coyote? La vita è fantasia, è coraggio, è lotta dura con la voglia di inventare.' Ja, das bewundere ich.